Spatzenschule Neukalen
Spatzenschule Neukalen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  „Chancengerechtigkeit besteht nicht darin, dass jeder einen Apfel pflücken muss, sondern, dass jeder es darf und dass der Zwerg eine Leiter bekommt. Der Zwerg aber braucht nicht nur eine Leiter, er braucht auch eine größere als die anderen.

Aber nicht nur Zwerge, sondern auch Riesen möchten essen, ohne sich immer bücken zu müssen.“  

        Célestin  Freinet
     
Ich will sie pflücken!

     

 

Nicole ist unterm Kirschbaum. Vor ihr steht ein Korb, der von leuchtend roten Kirschen überquillt. Sie müsste nur ihre kleine Hand ausstrecken und schon         könnte sie herzhaft zubeißen. Doch sie ist unzufrieden!
        -   Ich will sie pflücken!
        Sie ist darauf versessen, die wenigen ihr zugänglichen Zweige zu erfassen,         die anscheinend eigens in Reichweite der kindlichen Begierde gewachsen         sind. Da ist sie keineswegs anspruchsvoll! Die geringste kleine grüne         Frucht ist für sie eine Köstlichkeit. Sie hat sie gepflückt!
        Ich sage mitleidsvoll:
        -   Schau, Nicole, ich reiche dir schöne     Büschel         herunter!
        Sie wehrt sich von neuem mit einem paradoxen Heldenmut, indem sie die         Arme dem Blätterwerk entgegenstreckt.
        -   Ich will sie pflücken!

Doppelter         Irrtum des Pädagogen: Wir stellen unsere Schüler mehr oder weniger bequem         in den Baumschatten und legen Früchte in Reichweite vor sie hin, die wir         ausgewählt und für sie gepflückt haben, schön in Büchern klassifiziert,        
Meisterwerke der Wissenschaft und Technik. Und wir wundern uns darüber,         dass sich unsere Nicoles von diesen appetitanregenden Körben abwenden,         um ihre Hände auszustrecken und ihre Augen auf den Baum zu richten, von         dem sie, wie im richtigen Leben, die kostbaren Früchte der Erkenntnis pflücken möchten, die nur dann eine feine Nahrung sind, wenn sie nicht im voraus und willkürlich vom Baum gebrochen sind.
Und da wir diese kindliche Hartnäckigkeit, die Dinge zu komplizieren, die wir doch schon vorbereitet und erleichtert haben, nicht verstehen, verbergen wir den Baum, damit das Kind nur noch die Früchte im Korb sieht und sich damit zufriedengibt.
Da nichts Besseres zur Verfügung steht, isst das Kind tatsächlich die Früchte im Korb, aber so gierig, dass es sie nicht mehr verdauen kann und einen solchen Ekel entwickelt, dass man nicht mehr weiß, wen man anklagen soll: das Kind, das keinen Hunger und Durst mehr hat oder die Methode, die das Wunder des heißersehnten Baumes allein nicht von neuem bewirken konnte.

Unglücklich die Kinder, die Kirschen niemals anders als aus Körben gegessen haben und die die belebende Freude des Menschen nie kennengelernt haben, der sich an den Zweigen festhält und nach seinen Bedürfnissen pflückt!
Unglücklich das Kind, unglücklich der Mensch, der sich mit Erkenntnissen vollgestopft hat, weit vom Baum des Lebens entfernt und der nicht mehr die Kraft zum Protest hat:
-   Ich will sie pflücken!        
        
 
 

aus: Célestin Freinet: Die Sprüche des Mathieu (Les dits de Mathieu ), 1967 nachgedruckt in: Jochen Hering und Walter Hövel (Hrsg.).

Immer noch der Zeit voraus. Kindheit, Schule und Gesellschaft aus dem Blickwinkel der Freinet-Pädagogik. Pädagogik-Kooperative       e.V. (jetzt Freinet-Kooperative e.V.), Bremen, 2. Auflage 1999, ISBN 3-9805100-0-X   

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